Gebäude nach Net Zero Standard

Serielle Sanierung mit Energiesprong

Text: Christina Stahl, Marcus Franken | Foto (Header): © ecoworks

Nur zwei Jahre, nachdem die dena „Energiesprong“ in Deutschland bekannt gemacht hat, steht in Hameln die erste serielle Sanierung zum „Net Zero Building“ jetzt vor dem Abschluss. Die Erfahrungen fließen bereits in die nächsten sechs beauftragten Projekte und in mehr als 11.000 angekündigte Sanierungen ein. Mit der Beteiligung der Wohnungswirtschaft ist damit die wichtige erste Etappe erreicht: Die klimaneutrale Modernisierung von Wohnhäusern durch industrielle Vorfertigung in großer Zahl schneller, mieterfreundlicher und kostengünstiger zu machen.

Auszug aus:

EnEV Baupraxis
Fachmagazin für energieeffiziente Neu- und Bestandsbauten
Ausgabe März / April 2020
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150 Bauleute, Stadtkämmerer und Minister standen staunend im Regen, als drei Handwerker im November 2019 in Hameln eine der ersten Fassadenelemente nach dem Energiesprong-Prinzip montierten: Aus dem grauen Himmel ließ ein Kran das rund drei mal vier Meter große Fertigteil herab, das ausgerichtet, aufgesetzt und an der Backsteinwand des Mehrfamilienhauses verankert wurde. Der Vorgang dauerte nur wenige Minuten. Dann war die Wand gestellt und die Experten nass. Kuckuck heißt das Viertel in der „Rattenfängerstadt Hameln“, in dem die Firma ecoworks GmbH aus Berlin als Generalübernehmer und Contractor das Mehrfamilienhaus mit den Nummern 7, 9 und 11 saniert – als erstes Gebäude nach dem Energiesprong-Prinzip der seriellen, industriellen Sanierung. 2018 wurde ecoworks „als Hybrid aus Bauunternehmen und Energieversorger“ gegründet und hat sich „CO2-neutrales Wohnen für Alle“ auf die Fahnen geschrieben. Der Eigentümer des Viertels ist die Arsago-Gruppe, ein Unternehmen mit rund 4.000 Wohnungen in Deutschland, überwiegend vom Typ „bezahlbarer Wohnraum“ an „B & C Standorten“, wie es die Firma beschreibt. Arsago besitzt damit genau jenen Typ Wohnhaus, an dem der Klimaschutz sonst leicht an der sozialen Realität scheitert: Hier führen energetische Sanierungen schnell zu Mieterhöhungen, die von den einkommensschwachen Mietern nicht getragen werden können. „Gerade im Segment des bezahlbaren Wohnraums mit niedrigen Mieten sind energetische Sanierungen mit hohen Kosten pro Quadratmeter wirtschaftlich nicht darstellbar“, sagt Arsago-Manager Florian Schrage.

Ideale Geometrie

Im Kuckuck hat auch die Stadt Hameln sehr viel Wert auf eine vorbildliche Sanierung gelegt. „Das Viertel war stigmatisiert“, erzählt Hamelns Stadtbaurat Hermann Aden. Die Siedlung war vermüllt, die Leerstandquote lag bei 80 %. Seit die Arsago Gruppe die mehr als ein Dutzend Gebäude 2017 erworben hat, ist der Müll verschwunden und der Leerstand auf 20 % zurückgegangen. Die Presse berichtet jetzt anders über den kleinen Stadtteil: Vom „Stigma Kuckuck“ zur „unglaublichen Chance für den Kuckuck“. Mit der klimaneutralen Modernisierung will Arsago das Viertel nun auch für neue Mietergruppen attraktiv machen. Der Sanierungsbedarf an „B & C Standorten“ ist hoch. Laut Deutscher Energie-Agentur (dena) gibt es in Deutschland rund 500.000 unsanierte Mehrfamilienhäuser aus den 1950er- bis 1970er-Jahren mit über drei Millionen Wohnungen, die sich für Energiesprong-Sanierungen eignen. Alleine für diese Gebäudegruppe schätzt die dena das Marktvolumen auf rund 120 Milliarden Euro. Grundsätzlich sind Modernisierungen mit vorgefertigten Elementen auch für Eigentümergemeinschaften interessant. Und weitere Gebäudetypen, wie Aufstockungen, Einfamilienhäuser oder Nichtwohngebäude, kommen zukünftig ebenfalls infrage. Gleichzeitig ist aber klar, dass dieser Ansatz erst einmal für die architektonisch einfacheren und typenähnlichen Gebäude zur Anwendung kommt.

Aus Sicht der Architekten und Ingenieure sei in Hameln besonders die Geometrie des Gebäudes ideal für ein Energiesprong-Pilotprojekt, erklärt Stefan Oehler, Architekt und technischer Leiter bei ecoworks. Die drei Häuser aus dem Baujahr 1936 beherbergen zwölf Wohnungen und sind schlichte, zweistöckige Kuben ohne Versprünge oder Loggien und mit einem einfachen Satteldach, was sich gut für eine neue Hülle aus vorgefertigten Elementen und PV-Modulen eignet. „Wir haben zunächst das Gebäude als millimetergenaue Punktwolke gescannt und daraus ein 3D-Modell erstellt“, erklärt Oehler. Das ist die Basis für unser BIM-Modell, welches dann für die weitere Planung und Produktion genutzt werden soll. Für Vermessung und 3D-Modellierung kommen Laser oder Drohnen zum Einsatz – was derzeit eher von Start-ups als von Vermessungsbüros angeboten wird.

 

Wie in der Autofabrik

Mit dem digitalen Modell begann bei ecoworks die eigentliche Planung der Fassadenelemente: vorgefertigte Holzelemente, in denen bereits Fenster, Lüfter, elektrischer Sonnenschutz, die Dämmung und die Außenfassade integriert sind. Jeder Fachplaner soll zukünftig Zugriff auf das BIM-Modell haben, um mitplanen zu können, sagt Oehler. Wenn zusätzlich auch Strom- und Wasserleitungen erneuert werden, könnten diese ebenfalls in die Fassade integriert werden. Das reduziert die Arbeiten innerhalb der bewohnten Gebäude.

Mit der Fachplanung ging ecoworks in die Ausschreibung, die der Holzbauer Opitz aus Neuruppin nördlich von Berlin für sich entschied. Die Tochter des Baustoffanbieters Knauf ist nach eigenen Angaben in Deutschland „marktführend im Bereich Elementbau für Wände, Decken und Dächer“. Neben Opitz gibt es laut Oehler noch ein halbes Dutzend qualifizierte Holzbaufirmen, die solche Aufträge umsetzen wollen. Zukünftig werden solche Firmen Fertigungsstraßen entwickeln, bei denen die Zulieferer „Just in Time“ ihre Bauteile anliefern. Ähnlich der Autoindustrie werden die Dach- und Fassadenelemente dann am Fließband produziert, Sonderwünsche inbegriffen.

Ein zentrales Problem ist bei der Verwendung von Fassadenelementen nach dem Energiesprong-Prinzip nicht die Technik – in Holland wurden schon tausende Gebäude so saniert. Die Herausforderungen liegen unter anderem in rechtlichen Themen: Die Hersteller der Fassadenelemente möchten keine Gewährleistung für die eingebauten Fenster, Lüfter oder andere Technik in ihren Holzkonstruktionen tragen. Die Montage der Elemente wird wiederum von einer anderen Firma übernommen. „Hier muss ecoworks als Generalübernehmer ins Risiko gehen und sich auf die eigene Qualitätssicherung verlassen. Solche Produktionsketten bieten noch beträchtliches Optimierungspotenzial“, sagt Oehler.

 

Kein Schießscharteneffekt

Aus einer der Erdgeschosswohnungen im Kuckuck heraus kann durch das alte, noch nicht ausgebaute Fenster auf das Innere der Fassadenelemente geblickt werden: Zu sehen sind Dämmung und das neue Fenster. Die Architekten haben Lage und die Größe der Fenster nicht geändert, daher müssen die Mauerwerksanschläge abgeschnitten werden. Dann werden die Übergänge von neuer Fassade und alter Außenmauer verkleidet. Was auffällt: Es ergibt sich kein Schießscharteneffekt durch eine außen aufgetragene Dämmung, denn die Fenster sitzen in der neuen Außenhülle – die Dämmung des Hauses fällt kaum ins Auge.

Bis zum Frühjahr 2020 soll das Pilotprojekt Hameln für ecoworks abgeschlossen sein. Oehler ist zuversichtlich, dass die energetischen Ziele eingehalten werden: Das Haus ist als Net Zero-Building geplant. Es ist also nicht energieautark, sondern weiter mit dem öffentlichen Stromnetz verbunden. Die Luft-Wasser- Wärmepumpe ist in einem separaten Container (in Hameln: in einer alten Garage) neben dem Gebäude untergebracht, die PV-Anlage auf dem Dach und der Batteriespeicher liefern über das Jahr gesehen genügend Strom für den Haushalt, Warmwasser und Heizung. Damit vorsorgt sich das Haus bilanziell übers Jahr gesehen vollständig selbst mit erneuerbarer Energie und ist dadurch im Betrieb klimaneutral. „Für die Mieter ist das Konzept attraktiv, weil sie aus der Solaranlage den ‚Strom günstiger als von üblichen Stromanbietern‘ beziehen können“, sagt Oehler. Der Heizwärmebedarf sinke um 80 % und damit auch die Heizkosten. Insgesamt geht der Endenergiebedarf durch die Modernisierung auf 36 MWh/a zurück. Die Solaranlage auf dem Dach erzeugt 47 MWh/a. Dadurch entsteht ein Energieüberschuss, der ins Netz oder Auto eingespeist wird. In Summe erzeugt das Mehrfamilienhaus eine Klimagutschrift von 1.400 Kilogramm CO2 pro Jahr. Gleichzeitig werden der Wohnkomfort und damit der Wohnwert der Gebäude extrem erhöht.

 

Zeitlicher Vorlauf auf ein Fünftel reduziert

Das Projekt in Hameln hat für Oehler noch den Charakter eines Pilot- und Forschungsprojekts. Es gab entsprechende Förderungen von Kommunen, Land und Bund. Anders als bei kommenden Modernisierungen hatte Arsago für „das erste Mal“ ein Gebäude ausgewählt, das seit fünf Jahren leer stand und sogar Schimmel und Schwamm aufwies. „Normalerweise hätte man dieses Haus abgerissen“, sagt Oehler. So aber wurde das Gebäude zunächst kernsaniert, bevor sich die Architekten von ecoworks an die energetische Arbeit gemacht haben. Das macht den direkten Vergleich bei Finanzen und Aufwand mit anderen Energiesprong-Sanierungen schwierig. Da keine Mieter im Haus waren, gab es nicht den Zeitdruck und die Notwendigkeit auf Rücksichtnahme, wie bei Häusern, die im bewohnten Zustand saniert werden. Der Erfahrungsgewinn aus Hameln ist für ecoworks enorm: „Wir konnten beim Folgeprojekt den Prozess extrem beschleunigen“, beschreibt Oehler den Erfolg der Arbeiten. Anstelle von Monaten sei der Zeitbedarf nun auf Wochen gesunken. Besser eingespielt ist jetzt auch die Abstimmung mit der Holzbau-Firma Opitz und den Zulieferern. „Wir werden mit jedem Projekt schneller und wirtschaftlicher“, so Oehler.

Die Brutto-Modernisierungskosten bei herkömmlichen Sanierungen setzt ecoworks-Gründer Emanuel Heisenberg mit 900 bis 1.400 €/m² an, wenn die üblichen Fördermittel, etwa der KfW, einbezogen werden. Für die industrielle Sanierung nach dem Energiesprong-Prinzip rechnet Heisenberg dagegen nur noch mit 650 bis 1.000 €/m² und garantiert als Generalübernehmer dem Bauherrn diese Endkosten auch. „Wir senken die Preise damit um 20 bis 30 %.“ Ecoworks kümmert sich als Generalübernehmer um die gesamte Sanierung, verspricht „dramatisch kürzere Umsetzungszeiten“ und dadurch auch eine Mieter-freundlichere Herangehensweise. Für die Vorplanung von der ersten Begehung bis zum Beginn der Bauarbeiten rechnet ecoworks mit einem halben Jahr und weniger.

 

Weitere Sanierungen auf dem Weg

Bei vielen Wohnungsgesellschaften scheint das gut anzukommen: Für 2020 sind rund 15 weitere Sanierungen nach dem Energiesprong-Prinzip auf den Net Zero Standard in ganz Deutschland geplant. Kurz vor dem Startschuss stehen Projekte in Hannover, Bochum und Köln, alle werden durch das EU-Programm Interreg MustBe0 gefördert. Sie alle sind Nachkriegs-Miethäuser, die noch nicht energetisch modernisiert wurden und ebenso wie in Hameln einfache Geometrien mitbringen. Die Firma ecoworks plant sechs weitere Net Zero-Sanierungen, darunter sind die Objekte in Bochum und Köln. Diese Wohnungen sollen dann in „vollbewohntem Zustand“ saniert werden. Für weitere 700 Wohneinheiten sei man in Verhandlungen mit Wohnungsgesellschaften, sagte Heisenberg in Hameln. Für die neuen Projekte seien außer den üblichen KfW-Darlehen keine weiteren Fördermittel veranschlagt. Damit hätte das Energiesprong-Verfahren bereits den Sprung in den normalen Sanierungsmarkt geschafft.

Für Niedersachsens Bau- und Energieminister Olaf Lies, der sich ebenfalls auf der Baustelle in Hameln einfand, bietet Energiesprong eine große Chance: Alles, was skaliert werden kann, werde günstiger, so Lies in Hameln. Er sei überzeugt, dass das der richtige Weg sei. Darum bearbeite seine Behörde im Moment auch die niedersächsische Bauordnung, etwa beim Thema „Brandschutz bei mehrstöckigen Holzfassaden“ und der bautechnischen Bewertungen der Vorhangfassaden. Hier müssten die auf traditionelle Verfahren ausgerichteten Vorschriften teilweise angepasst werden.

 

Über 11.000 Energiesprong-Sanierungen angekündigt

Die Deutsche Energieagentur dena, die das Energiesprong-Konzept erst vor gut zwei Jahren aus den Niederlanden nach Deutschland importiert hat, kann sich jetzt über den Erfolg freuen. „Wir müssen hier einen ganz neuen Markt entwickeln und brauchen für die industriellen Verfahren ein großes Volumen“, sagt dena-Vorsitzender Andreas Kuhlmann. Denn die Bundesregierung will bis 2050 einen klimaneutralen Gebäudebestand erreichen. Der Anfang ist gemacht: Ende November 2019 haben 22 Wohnungsunternehmen den „Volumen-Deal“ der dena unterzeichnet. Darin stellen die Immobilienfirmen 11.635 Wohnungen bereit, die in den nächsten vier Jahren seriell saniert werden sollen. Neben den Wohnungseigentümern beteiligen sich vier Bauunternehmen, um bis März 2020 an der Entwicklung wirtschaftlich attraktiver und skalierbarer Lösungen zu arbeiten. Die Markteinführung wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie unterstützt.

Generalübernehmer oder Dienstleister sollen über Wartungsverträge die vereinbarten Leistungsmerkmale für bis zu 30 Jahren garantieren und sicherstellen, dass sich die gesamten Maßnahmen primär durch Einsparungen bei den Energiekosten rechnen. Das kann durch eine Contracting-Lösung wie in Hameln sichergestellt werden – aber natürlich können die Wohnungsgesellschaften auch selber die Energieversorgung übernehmen.

Auf der Anbieterseite fördert die dena in einem „Accelerator Programm“ außerdem Unternehmen, welche die vorhandenen Energiesprong-Konzepte weiterentwickeln. Darunter sind ecoworks, die BAM Gruppe, Renolution BV aus Haaksbergen in den Niederlanden sowie die B&O Gruppe. Zusätzlich wurden 16 Unternehmen aus der Zulieferindustrie für vorgefertigte Fassaden- und Solardachelemente sowie Haustechnikmodule in das Programm aufgenommen: AHA Mitsubishi, CTC Giersch, Daikin – Rotex, Drexel und Weiss, Kingspan, Luftgut, NFG, Opitz Holzbau, Panasonic, Plandach, Pluggit, Rheinzink, Roofit.solar, Sieveke, Stegimondo und Sto. Unterstützt wird Energiesprong dabei auch vom GdW Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen. Die Umsetzung der ersten Piloten in Deutschland sowie das Accelerator Programm für Unternehmen der Bauwirtschaft werden zudem über das EU-Programm Interreg NWE „Mustbe0“ gefördert.

Mehr Informationen zum Energiesprong-Prinzip lesen Sie in unserer Ausgabe Januar/Februar 2019.

www.enev-baupraxis.de/portfolio/energetische-denkmalsanierung/

Der Autor

Christina Stahl und Marcus Franken
Christina Stahl ist bei der Deutschen Energieagentur (dena) mitverantwortlich für die Kommunikation für Energiesprong in Deutschland. Marcus Franken ist Partner bei der Kommunikationsagentur Ahnen&Enkel (ahnenenkel.com) in Berlin, die auf Energieund Umweltthemen spezialisiert ist.

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