Adaptive Solarfassade

Sonnennutz- und Sonnenschutzkonzept in einem

Text: Sandra Hoffmann | Foto (Header): © Roman Keller

Die Professur Architektur und Gebäudesysteme der ETH Zürich hat eine adaptive Solarfassade entwickelt, die Strom produziert und darüber hinaus Lichteinfall, Wärmebildung sowie Beschattung reguliert. Das Projekt kombiniert aktuelle Entwicklungen aus Architektur, Energietechnik, Robotik und Künstlicher Intelligenz. Den zweiten Prototyp dieser flexiblen und lernfähigen Fassade testen die Entwickler derzeit im Forschungsgebäude NEST der Empa in Dübendorf.

Auszug aus:

GEG Baupraxis
Fachmagazin für energieeffiziente und ressourcenschonende Neu- und Bestandsbauten
Ausgabe Januar 2022
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Anfang Oktober 2021 ist das neueste Bauwerk in das Forschungsgebäude NEST der Empa im schweizerischen Dübendorf eingezogen: das Modul „HiLo“. HiLo steht für „High Performance – Low Emissions“. Mit der mittlerweile achten Unit des Experimentalgebäudes erproben Wissenschaftler und Industriepartner neuartige Möglichkeiten im Leichtbau bzw. bautechnische Lösungen im Bereich Gebäudehülle. Die Block Research Group (BRG) an der ETH Zürich sucht hier etwa nach neuen Tragstrukturen, die einen effizienten Materialeinsatz sowie eine ästhetisch ansprechende Formensprache ermöglichen. Zudem ist in der HiLo-Unit eine adaptive Solarfassade (ASF) im Einsatz, die die Professur Architektur und Gebäudesysteme (A/S) der ETH Zürich entwickelt hat. „Heutige Gebäudehüllen reagieren nicht oder nur eingeschränkt, wenn das Wetter wechselt oder Räume anders genutzt werden. Damit bleiben beachtliche Potenziale für Energieeinsparung, -gewinnung und verbesserten Komfort ungenutzt.

An der Professur für Architektur und Gebäudesysteme forschen wir an Ansätzen, die die Gebäudehülle dynamischer, effizienter und lernfähiger machen. Ein Beispiel ist die ‚Adaptive Solar Facade‘. Sie besteht aus individuellen Modulen, die auf einem Seil- oder Stabnetz an der Fassade montiert sind. Sie können einerseits den Licht- und  Wärmeeintrag in den Raum beeinflussen, indem sie mehr oder weniger Sonnenstrahlung durch die Fenster lassen. Andererseits produzieren sie Strom über hocheffiziente Photovoltaikmodule“, erklärt Prof. Dr. Arno Schlüter, der das ASF-Projekt leitet. Zu beachten ist dabei im Hinblick auf den Strom: Solarpaneele generieren Gleichstrom, der für die Nutzung in Wechselstrom umgewandelt werden muss. Viele Endgeräte wandeln diesen Wechselstrom dann wieder in Gleichstrom um, was nicht effizient ist. Daher werden im HiLo möglichst alle Verbraucher der Haustechnik und Endgeräte direkt an ein Gleichstromnetz angeschlossen.

 

Forschen im lebenden Labor

Mit seinem Team hat Schlüter einen ersten ASF-Prototyp von 2015-2018 im „Haus der natürlichen Ressourcen“ (HoNR) auf dem ETH-Campus Hönggerberg in Zürich unter realen Bedingungen errichtet und getestet. Der zweite Prototyp wurde nun im Rahmen der HiLo-Unit bei NEST entwickelt und realisiert. Der neue Prototyp entspricht grundsätzlich dem Prinzip der ersten Anlage, allerdings wurde das Gesamtsystem bisherigen Erkenntnissen entsprechend angepasst und verändert. Dabei wurden alle Teile re-engineered, um etwa den Materialaufwand weiter zu reduzieren, die Herstellung zu vereinfachen und deren Kosten zu senken, sowie die Robustheit und den Funktionsumfang der Fassade zu erhöhen.

Im HiLo sind nun 30 Fassadenmodule mit CIGS-Dünnschicht-Solarzellen (Kupfer-Indium-Gallium-Diselenid) im Einsatz1), die direkt auf 400 x 400 mm Aluminiumblech laminiert sind. Ein Modul wiegt 800 g. Da die adaptive Solarfassade also sehr leicht ist, lässt sie sich laut Schlüter im Gegensatz zu herkömmlichen PV-Modulen fast überall, auch an bestehenden Gebäuden, anbringen. Das System ist dabei in sich variabel. Es kann in Raster, Größe, Form, Farbe, Abstand und Neigung variieren.

Für die Beweglichkeit der Fassadenmodule sorgen „weiche Roboter“. Die „Soft Robotic Actuators“ bestehen aus biegsamem Zweikomponenten-Silikonkautschuk und speziellen Kammern, in die – durch Ventile gesteuert – Luft ein- oder ausgepumpt wird. Dadurch verformt sich der Aktuator und passt so über das Aluminiumblech die Ausrichtung jedes einzelnen Moduls oder ganzer Gruppen an. Die Module können dabei auf der horizontalen und vertikalen Achse in unterschiedlichen Winkeln rotieren und fungieren als Beschattungs- und Solar-Nachführungssystem. Sie können selbstständig der Sonne folgen und Strom gewinnen. Je nach Bedarf lassen sich die Module jedoch auch über ein festes U-Gelenk versteifen, damit sie z. B. einen Sturm überstehen. Laut Schlüter hält die flexible Konstruktion Windlasten von bis zu 90 km/h stand.

Die Module werden zum einen durch Sensorik, zum anderen direkt durch die Nutzer gesteuert. Mithilfe einer intelligenten, lernfähigen Regelung soll sich die Fassade zudem auf das wechselnde Wetter sowie Gewohnheiten und Wünsche der Nutzer optimal anpassen. „Ein weiteres Ziel des Projekts ist, dass die Fassade automatisch agiert und zugleich lernfähig ist. Sie soll z. B. anhand von Betriebsdaten Nutzervorlieben im Bereich Temperaturen, Lichtverhältnisse und Luftqualitäten erlernen oder die Anforderungen an eine bestimmte Raumnutzung erfassen. Die Fassade beginnt it einem vorprogrammierten Verhalten und lernt kontinuierlich die Bedürfnisse der Nutzer im örtlichen und klimatischen Kontext kennen“, sagt Schlüter und betont, dass die Fassade im Sinne eines Gesamtsystems nicht isoliert betrachtet werden solle. „Die Effizienz hängt vom Zusammenspiel der Fassade mit anderen gebäudetechnischen Komponenten, wie Beleuchtung, Heizung und Lüftung, ab. So lässt sich etwa die Sonneneinstrahlung über die Fassade nutzen, um Räume aufzuheizen. Teile der Fassade können verschatten, während andere Licht auf die Decke leiten und damit künstliche Beleuchtung einsparen.“

Der lernfähige Algorithmus steuert die Bewegungen der Paneele also so, dass die Stromgewinnung und die Einsparungen bei Heizung und Kühlung zusammen einen möglichst geringen Gesamtenergiebedarf ergeben. Dabei berücksichtigt er auch, wie der Raum gerade genutzt wird und optimiert das Klima entsprechend.

 

Bisherige Erkenntnisse

Was die bisherige Energiebilanz der adaptiven Solarfassade anbelangt, zeigten die Messungen am ersten Prototyp des HoNR an einem sonnigen Tag in Zürich beim Solarertrag einen Energiezuwachs zwischen 61 und 73 Prozent gegenüber statischen Modulen an der Referenzposition, also senkrecht und parallel zur Fassade. Im HoNR versorgte die adaptive Fassade einen ca. 15 m² großen Büroraum energieneutral mit Strom. Um herauszufinden, wie weit sich der Energiebedarf eines Raums theoretisch reduzieren lässt, simulierten die Forscher auf Basis der Prototyp-Daten verschiedene Szenarien und berechneten dabei das Energiesparpotenzial von Räumen, die mit einer adaptiven Solarfassade versehen sind. Simuliert wurde je ein Büro- und ein Wohnraum an den Standorten Zürich, Helsinki und Kairo. Die Untersuchungen zeigten, dass sich in Büros mit der Fassade mehr Energie einsparen lässt als in Wohnräumen. Zudem lässt sich in warmen Klimazonen mehr Energie einsparen als in kalten. Am besten schnitten gemäßigte Zonen in Mitteleuropa ab.

Für einen nach neuesten Baustandards erstellten Büroraum in Zürich ergaben die Simulationen bspw., dass die Fassade 115 Prozent der Energie erzeugt, die zur Raumheizung bzw. -kühlung für ein angenehmes Raumklima nötig ist. Ersten Lebenszyklusberechnungen zufolge macht die ASF laut Schlüter die für ihre Herstellung benötigte Energie nach ca. 18 Monaten wieder wett und die Emissionen nach ca. 24 Monaten. Nun sammelt das ASF-Team weitere Erfahrungen mit der HiLo-Unit. „Im aktuellen Projekt, das sicher bis 2024 laufen wird, geht es primär um die Nutzerinteraktion mit der Fassade sowie Betriebsmodi und die Dauerhaftigkeit der Komponenten an der Fassade. Überdies stellen wir eine erweiterte energetische Betrachtung an, die erst durch die Ausstattung von HiLo möglich wurde“, erklärt Schlüter.

Mit den experimentell erzielten Resultaten beider Prototypen wollen die Forscher letztlich u. a. das Verhalten, sprich: die Anpassungsfähigkeit der Fassade an den Nutzer, sowie die Interaktion für unterschiedliche Anwendungen vergleichen. Zu kaufen gibt es die adaptive Solarfassade noch nicht, obwohl das Team um Schlüter bereits Anfragen für mehrere 1.000 m² vorliegen hat. „Wir diskutieren und prüfen derzeit eine Kommerzialisierung der adaptiven Solarfassade bzw. den Schritt vom Forschungsprototyp zum Produkt. Da es bisher ja nur Kleinserien gab, erarbeiten wir bspw. gerade die Kosten. Zu kaufen wäre das System frühestens Ende 2022“.

Die NEST-Unit HiLo

Der jüngste Spross der NEST-Familie namens „HiLo“ demonstriert die Möglichkeiten im Leichtbau und denkt dabei das Thema Gebäudehülle neu – bzw. neu und alt, denn in dem zweistöckigen Modul treffen Bauprinzipien aus dem Mittelalter auf Baumethoden der Zukunft. Geplant und gebaut wurde das als Plusenergiehaus konzipierte HiLo mit einem markanten, doppelt gekrümmten Betondach mit modernsten Design- und Fabrikationsmethoden. Für die neuartige Leichtbau-Gewölbedecke wurden die Forschenden der ETH Zürich allerdings nicht zuletzt inspiriert von den alten Kathedralenbaumeistern, die es verstanden, Strukturen zu schaffen, die sich selbst tragen. Wissenschaftler um Philippe Block, Professor für Architektur und Tragwerk der Block Research Group (BRG) an der ETH Zürich, und Dr. Arno Schlüter, Professor für Architektur und Gebäudesysteme an der ETH Zürich, wollen gemeinsam mit Industriepartnern mit dem Gebäude Leichtbauweisen erproben und sie mit intelligenten und adaptiven Gebäudesystemen kombinieren. HiLo vereint mehrere bautechnologische Innovationen:

1. Doppelt gekrümmte, zweischichtige Betonschale

Das Dach in Form eines doppelt gekrümmten Betontragwerks wurde in „Sandwich“-Bauweise erstellt. Es enthält eine Schicht von Isolierblöcken zwischen zwei Stahlbetonplatten von nur 5 und 3 cm Dicke. Die Betonschichten sind durch schlanke Aussteifungsrippen und vertikale Zugstäbe miteinander verbunden. Die Kombination dieser leichten, zweischichtigen Struktur mit der Festigkeit, die sich aus der stark gekrümmten Dachgeometrie ergibt, erlaubt es, die selbsttragende Fassadenkonstruktion wärmebrückenfrei zu integrieren, während die Sichtbetonoberfläche der Schale über die Grenzen der Gebäudehülle hinwegfließen kann.

2. Flexible Schalung mit aktiver Steuerung vor Ort

Die HiLo-Dachkonstruktion wurde mithilfe einer flexiblen Schalung gebaut, die großteils auf wiederverwendbaren Teilen basiert. Die Schalung besteht aus einem gespannten Seilnetz, über das eine dünne Textilmembran gespannt wurde. Auf diese wurde der Beton gespritzt. Da diese Schalung nicht starr ist, führt das Gewicht des nassen Betons zu Verformungen. Zum Ausgleich werden die Vorspannung im Seilnetz und die Form der Schalung so angepasst, dass die erste Schicht der Sandwich-Betonstruktur des Dachs die Schalung genau in die gewünschte endgültige Rohbauform verformt.

3. Gewölbe-Boden-System

In den HiLo-Böden kommen dünne, doppelt gekrümmte Schalen mit vertikalen Aussteifungen zum Einsatz, die die Lasten nur über Druckkräfte in die Auflager leiten. Die resultierenden Kräfte werden in den Ecken gesammelt, wo ihr nach außen gerichteter Gewölbeschub von vorgespannten Verankerungen aufgenommen wird. Zudem wird in den Böden nur dort Material eingebaut, wo es gemäß dem Kräftefluss von Druck und Zug strukturell nötig ist. Das ermöglicht Einsparungen von mehr als 70 Prozent Beton und 90 Prozent Bewehrungsstahl im Vergleich mit einer herkömmlichen Stahlbetonplatte.

4. Integration von Ventilation, Heizung, Klimatisierung

Die Konturen der markanten Deckenoberfläche prägt ein in die Decken eingebettetes Heiz- und Kühlnetz. Aufgrund der geringen Dicke der Betonstruktur sorgt diese Konstruktion für eine hocheffiziente Flächenheizung. Die Kopplung mit dem Belüftungssystem verbessert die thermische Leistung zusätzlich. Mithilfe von 3D-Druck wird eine optimierte Schacht- und Leitungsgeometrie an der idealen Versorgungsstelle in der Gebäudestruktur platziert. An der Decke sind vier Frischluftdüsen angebracht, die mit einer Mischstrategie Luft im Raum verteilen.

5. Adaptive Solarfassade

Die adaptive Solarfassade besteht aus beweglichen Solarmodulen, die als Beschattungs- und Solar-Nachführsystem fungieren. Zudem können sie die Temperatur im Gebäude regulieren, indem sie den Sonneneinfall steuern. Dabei lassen sie die Sonne entweder zur passiven Beheizung in den Raum oder verhindern den Sonneneintritt, um Überhitzung und Kühlbedarf zu reduzieren. Die PV-Zellen der ASF produzieren bei Tageslicht jederzeit Strom. Hält sich niemand im Raum auf, kann die Fassade die Energieproduktion maximieren und z. B. andere Einheiten des NEST mit Elektrizität versorgen.

6. Intelligenter, lernfähiger Betrieb

Da HiLo mit modernsten Heiz-, Beschattungs- und Belüftungssystemen ausgestattet ist, können mit ihrer Hilfe verschiedene Betriebsarten getestet werden, um für die richtige Temperatur, Beleuchtung und genügend Frischluft zu sorgen. Die Entwickler erforschen, wie Gebäude(systeme) selbstständig lernen können und wie sie zugleich energieeffizient funktionieren und den Nutzern den gewünschten Komfort bieten können.

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